Claudia Klinger am 24. Oktober 2011 —

Das Internet – doch keine eigene Welt? (Gastbeitrag)

In Resonanz auf „Das Ende des Internets“ hat Anando Lechner den folgenden heiteren Text verfasst. Ich bedanke mich für den Gastbeitrag!
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»Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein!«
»Lieber Kollege, das Internet ist weder rechtsfrei, noch schafft es einen Raum. Es ist ein Kommunikationsmedium. Mehr nicht.«

»Geschätzte Kollegin, ich las neulich ‚Dieses Video ist in deinem Land nicht verfügbar.‘ Was wird hier denn künstlich konstruiert?«
»Jedenfalls kein Raum. Da wird nur die Reichweite von Kommunikation eingeschränkt.«

»Die Reichweite wird begrenzt? Es wird im Netz eine Staatsgrenze gezogen! Implizieren Grenzen denn nicht Räume?«
»Rechtsräume vielleicht, das ist was anderes.«

»Und Virtuelle Realitäten? Second Life? MySpace, „mein Raum“, Kreise? Hier werden doch mit simulierten Existenzen artifizielle erfahrungsreduzierte Digitalwelten betreten.«
»Was? Unsinn, da wird nichts simuliert, keine andere Welt betreten. Die vorhandenen Welt wird erweitert, Konzepte übertragen. Menschen unterscheiden nicht zwischen einem hier im Analogen und einem dort im Digitalen. Raum- oder gar Weltmetaphern sind für das Verständnis des Netzes generell nicht nützlich.«
»Hmmm… Darüber muss ich nachdenken.«

Schweigen füllt den ungebrochenen Rechtsraum. Plötzlich raschelt es hinten, in der Nähe des Tränengebüschs, und unsere Blicke werden von einer kleinen grünen Omwurst gefesselt, die dort aus dem Schatten gesprungen war. Sie zwirbelt ihren Schnauzbart, streicht sich über die Fühler und sagt dann leise:

»Die fallenden Blätter des Herbstes wurden bedeutungslos, als ich mich in der Tiefe des Netzes verloren hatte. Ich konnte nicht mehr abschalten, vernachlässigte Freunde, hatte ich doch tausend neue im Netz. Alle Wünsche nach Aufmerksamkeit konnte ich mir mühelos und aus dem Stuhl heraus erfüllen. Ich verlor meinen Job, ich wusch mich nicht mehr, verließ nicht mehr das Haus. Von Zeit zu Zeit aß ich etwas, dann klinkte ich mich wieder ein. Dort konnte ich fliegen, großartig sein, fühlte mich leicht, wichtig und frei. Niemals musste ich mich rechtfertigen, im Ernstfall wechselte ich meine Identität. Es gab dort keine Prügler, kein Leid. Ich konnte endlich die Bedeutung erlangen, die mir das wahre Leben versagte.«

»Wie bitte? Das ist doch überzeichnet, oder? Und warum schon wieder diese Unterscheidung von wahrem und anderem Leben? Was hat das alles mit Räumen zu tun? Was sind sie überhaupt?«

»Ich opferte meine physische Existenz dem Netz, wollte dort eine neue Heimat finden, in der Cloud unsterblich werden. Habe ein ‚als ob‘ nicht als solches erkannt. Habe Freundschaft mit Zahlen verwechselt, und Aufmerksamkeit mit Leben.«
»Und dann?«
»Erst als mir schmerzvoll der Schleier der Verwirrung genommen wurde, konnte ich mich wieder selbst erkennen.«
»Das scheint mir doch ein sehr individuelles Problem, gute Omwurst, möglicherweise ein Mangel an Medienkompetenz.«
»Diese Feststellung hätte mir nicht geholfen. Omwurstgehirne können das Netz nicht immer als das erkennen, was es wirklich ist.«

Die Omwurst zwinkerte freundlich mit dem rechten Auge und rief, während sie eine kleine Streichholzschachtelkutsche bestieg, den beiden noch ein rätselhaftes »Und verwechselt mir Pfeifen, Bananen und Buddelkisten nicht!« zu. Dann schnalzte sie mit der Zunge, zwei blaue Irrlichter kamen geräuschlos aus dem Nichts und spannten sich selbst vor die Kutsche. Die Omwurst schlug laut die Zügel und das wundersame Gespann setzte sich in Bewegung. Bald schon war es nur noch ein kleiner schwarzer Punkt im orangen Licht der untergehenden Abendsonne.

»Ach, wenn es die analoge Welt nicht gäbe, wovon würden wir dann träumen?«
»Von grünen Omwürsten, die aus Tränengebüschen kommen und in Streichholzschachtelkutschen gehen.«
Und als ob sie ein Faktum schaffen wollten, löschten beide gemeinsam die Abendsonne.