Wenn man in Linz lebt, stolpert man derzeit über die in der ganzen Stadt verteilten Installationen und Events des Festivals „Ars Electronica“, das in diesem Jahr unter dem Motto „Goodbye Privacy“ steht. Die Projekte der KünstlerInnen zu den Möglichkeiten der neuen Technologien vermitteln prima vista sowohl Faszination als auch Beängstigung.
Der Medien-Exhibitionismus unserer Tage macht private Details wildfremder Personen allen zugänglich, denn über Google Earth ist ein Blick in Nachbars video-überwachten Garten genauso möglich wie eine Google Suche nach allfälligen Spuren von Personen im Netz.
Diese entstehende virtuelle Parallelwelt lässt den Netzbürger zwischen Exhibitionismus bzw. Prostitution und Voyeurismus bzw. Ausbeutung pendeln, jeder ist Darsteller und Zuschauer zugleich. Auch wenn ich mich persönlich nicht in Second Life, MySpace oder YouTube virtuell individualisiere, wird mir letztlich klar, dass ich mich mit einer reinen Verweigerungshaltung in eine Sackgasse begebe.
Verschwimmende Grenzen, reglementierte Utopien…
Zumindest die Rolle des aufmerksamen und kritischen Beobachters ist heute im realen Leben fast zu einer Überlebensnotwendigkeit geworden. Das umso mehr, als die Grenzen zwischen virtuellen Räumen und real existierenden Gegebenheiten zusehends verschwimmen. Die Kommerzialisierung des Internet ist bereits Geschichte, das Web 2.0 ist auf dem Weg dazu. Wenn auch jene Festivalbesucher, die ihren Nickname aus Second Life als gebastelte Kopfbedeckung durch die Öffentlichkeit tragen, eher kindisch verspielt wirken, so personifizieren sie recht gut die Verschmelzung beider Welten, zumal sie sich bei einem sehr realen Stylisten die virtuellen Frisuren aus dem Online-Spiel auf das eigene Haupt zaubern ließen – gegen realen Cash versteht sich!
… Unruhe für sterbende Gletscher
Hand in Hand mit der Kommerzialisierung geht auch die Politisierung und Reglementierung. Die Utopie, die John Perry Barlow 1996 am Ende seiner „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ („Wir werden im Cyberspace eine Zivilisation des Geistes erschaffen. Möge sie humaner und gerechter sein als die Welt, die Eure Regierungen bislang errichteten“) formulierte, ist längst den digitalen Bach hinuntergegangen, den man sich ebenfalls in einer Installation der heurigen Ars Electronica (Second City) zu Gemüte führen kann. Die Mobile Elegy „Calling the Glacier“ des Klangforschers Kalle Laar ermöglicht Handy-BesitzerInnen, sich mit dem Pasterzengletscher am Großglockner in Verbindung zu setzen:
„Dort aufgestellte Mikrofone gehen auditiv auf Tuchfühlung zum Zischeln, Fließen, Knacken, Stöhnen und Ächzen des schmelzenden Eisgiganten. In Echtzeit wird dieser unaufhaltsame Prozess als Klangcollage direkt auf Mobiltelefone (+49 89 3791 4058) übermittelt und macht uns zu Zeugen eines Tatbestands, der uns alle betrifft.“
Nicht einmal als sterbender Gletscher hat man seine Ruhe!
Alle eine große Familie?
Als Eingeladener zu einer Diskussion zum „Dichterherbst“ Anfang Oktober in Wien etwa habe ich sowohl die Location „Masc Foundation – Kunstverein Grundsteingasse“ als auch Personalia der vorläufigen MitdiskutantInnen, die mir zuvor persönlich nicht bekannt waren, recherchiert. Ich kenne von vielen jetzt nicht nur ihre beruflichen Profile sondern ganz grob auch deren gesellschaftspolitische Orientierung, einzelne Hobbies und auch private Lebensstationen. Wenn ich davon ausgehe, dass einige der MitdiskutantInnen genauso nach mir recherchiert haben, dann würde es mich nicht überraschen, wenn ich bei der Diskussion auf Mitglieder meiner Familie angesprochen würde, die ebenfalls Webpräsenzen besitzen.
In Form von Symposien, Ausstellungen, Performances und Interventionen haben KünstlerInnen, Net-NomadInnen, TheoretikerInnen, TechnologInnen und RechtsexpertInnen aus aller Welt – soviele AsiatInnen habe ich übrigens noch nie in Linz gesehen – zahlreiche kritische Themen beleuchtet – hier nur ein Ausschnitt aus dem Programm:
- Was können wir dem Eindringen der Kontroll- und Überwachungstechnologien entgegensetzen?
- Wie lässt sich aus den neuen kulturellen Paradigmen der Web 2.0-Communities eine soziale Dynamik generieren, die auch in der realen Welt Relevanz entfalten kann?
- Wie können wir den individuellen Kontrollverlust über unsere digitale Persona verhindern?
- Wie sehen die neuen Strategien zur Schaffung von Privatsphäre in der transparenten Welt der digitalen Medien aus?
- Können wir die vorkonfigurierten virtuellen Öffentlichkeiten der Entertainment-Industrie aufbrechen und selbst gestalten?
- Wie können wir die gesamte kulturelle Vielfalt unserer Gesellschaften in diese neu entstehenden sozialen und öffentlichen Räume tragen?
Als seit Anbeginn des Internet auf diesem virtuellen Boulevard flanierend und mitgestaltend Tätiger, bin ich angesichts der bisherigen Entwicklungen eher skeptisch. Denn auch wenn Gerfried Stocker und Christine Schöpf in ihrem Statement hoffen: „Die digitale Revolution ist uns mittlerweile ganz vertraut, aber wie wird die digitale Rebellion aussehen?“ dann vermute ich, dass diese Rebellion wohl in YouTube unter Verwendung von Microsofts Vista von Google vermarktet stattfinden wird.
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14 Kommentare zu „Goodbye Privacy – zur Ars Electronica“.