Claudia Klinger am 05. Oktober 2018 —

Tim Berners Lee will das Web erneuern – kann das klappen?

Der Erfinder des Web will uns die Herrschaft über unsere Daten zurück geben. Was steht dagegen? Und was würde geschehen, wenn es tatsächlich gelingt?

Für unzählige Menschen sind heute die Dienste der Giganten Google, Facebook und Amazon „das Internet“. Viele kennen nicht einmal mehr Web-Adressen (URLS), sie glauben, die Google-Suche sei das „Tor“ zum Web. Hatte man früher Homepages (hier archivierte Beispiele), Blogs und Foren, so konzentriert sich heute alles auf die bekannten, sogenannt „sozialen“ Medien, allen voran Facebook, Instagramm (=auch Facebook) und Twitter. (Im Chrome-Browser hat Google die Webadresse einer Seite kürzlich gar nicht mehr vollständig angezeigt, aber nach Protesten dann doch wieder, vorerst).

Alles in allem ist das nicht mehr das Web (WWW, World Wide Web), das dem Erfinder Tim Berners Lee vorschwebte. Mit einem neuen Konzept und einem kürzlich gegründeten StartUP (Inrupt) will er nun das Web revolutionieren, wie Futurezone.de berichtet:

„Die Basis-Idee des britischen Informatikers ist rasch erklärt: Internet-Nutzer sollen eine Plattform bekommen, über die sie ihre bisherigen Aktivitäten im Netz durchführen können, aber ohne dass Unternehmen wie Google oder Facebook automatisch ebenfalls Zugriff auf diese Daten bekommen. Das betrifft etwa das Abrufen eines Online-Kalenders, das Streamen von Musik, das Schreiben von E-Mails oder Nachrichten oder das Sichern von Daten….
…Die Daten werden dabei dezentral gespeichert und befinden sich nicht in der Hand der großen Konzerne. Bernes-Lee nennt diese Entwicklung „Pod“, und Nutzer können selbst entscheiden, mit wem sie diese Daten in ihren Pods teilen. „Damit sollen Menschen wieder die Macht über ihre eigenen Informationen im Web zurückerlangen“, erklärt der Informatiker.“

Dagegen spricht: Trägheit und Bequemlichkeit

Zugegeben: ich kann mir anhand der bisherigen Infos noch nicht vorstellen, wie das mit den „Pods“ in der Praxis funktionieren soll. Alle unter dem Aspekt „Herrschaft über die eigenen Daten“ beklagenswerten Zustände sind ja entstanden, weil sie Einfachheit und Bequemlichkeit boten. Und zwar in einem Ausmaß, das weit über das hinaus geht, was z.B. Blogs heute bieten können bzw. wollen. Es ist unübertroffen einfach, ein Profil bei Facebook anzulegen, verglichen mit der Lernkurve, die Einrichtung und Betrieb eines selbst gehosteten Blogs erfordern. Zwar bieten auch hier große Plattformen (wiederum Google mit blogger.com) starke Vereinfachungen, doch ist die Vernetzung mit anderen, das „soziale Geschwurbel“ auch auf einem Plattform-Blog deutlich schwieriger zu erzeugen als auf einem Social-Media-Account.

Deshalb will – wenn ich es richtig verstehe – Berners Lee auch lediglich die „bisherigen Aktivitäten im Netz“ in einer Art und Weise ermöglichen, die den Mega-Plattformen den Zugriff auf die dabei anfallenden Daten verunmöglicht. (Angesichts dessen, was Twitter mit Dritt-Diensten anstellte, die mit Twitter-Daten arbeiteten, frage ich mich, wie das möglich sein soll – aber hey, wenn Tim Berners Lee meint, das gehe…). Es werden also sich also nur jene User angesprochen fühlen, die sich durch die Datennutzung durch die Giganten wirklich genervt fühlen. Und dann kommt es noch darauf an, welchen Aufwand das Verfahren über „Pods“ erfordert und welche gewohnten Nutzungen dadurch evtl. entfallen.

Und WENN es klappt: ist der Grundwiderspruch Absicht?

Aber mal angenommen, es klappt und es steigen massenhaft User auf die neue Art der Webnutzung um: Was dann? Dann entfällt die Bezahlung, die wir mittels der Überlassung unserer Daten für die kostenlosen Dienste leisten. Denn diese werden ja genutzt, um Werbung möglichst individualisiert an kleinste Zielgruppen ausspielen zu können, die an den beworbenen Produkten und Dienstleistungen hochwahrscheinlich interessiert sind (Etwas, das man sich einst wegen überquellender Briefkästen gewünscht hat!). Es kann dann nurmehr „Massenwerbung“ wie früher verteilte werden, was sich wiederum nur wirklich große Konzerne leisten können. Für den Betrieb von Facebook oder Google (Adwords) wird das nicht reichen, also würden sie mangels Finanzierung durch Werbung verschwinden.

Ist es das, was Tim Berners Lee will? Das halte ich für gut möglich, sogar für wahrscheinlich. Aber ist es auch das, was die Mehrheit der User will? Ein Web ohne Facebook – für MICH wäre das kein Problem, wohl aber fände ich es ätzend, wenn die Google-Suche, Twitter und manch andere kostenlose Google-Dienste entfallen würden: Google Map, Google Docs (Drive, Tabellen…), der Google Übersetzer und viele mehr.

Ohne die viel geschmähte „Bezahlung mit Daten“, die eine Finanzierung über Werbung ermöglicht, könnten all diese Dienste nurmehr kostenpflichtig existieren.

Wie viele könnten sich das leisten? Die Rede vom „durchkommerzialisierten Web“ bekäme eine völlig andere Bedeutung – und ich zweifle, ob es wirklich DAS ist, was viele wollen.

Was meint Ihr?

Diskussion

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6 Kommentare zu „Tim Berners Lee will das Web erneuern – kann das klappen?“.

  1. […] Tim Berners Lee will das Web erneuern – kann das klappen? […]

  2. Dazu habe ich mir hier einmal ausführlich Gedanken gemacht:
    https://www.sudelbuch.de/2018/09/17/die-kostenlos-kultur-verwandelt-menschen-in-nutztiere/

    Wir müssen den Co-Parasitismus der Kostenlos-Kultur im Plattform-Kapitalismus bekämpfen.

  3. @Ju: das ist ein toller Artikel, der allerdings auf der Schiene „früher war alles besser“ die damaligen Verhältnisse etwas zu sehr idealisiert. Fliegen war für Normalmenschen meist unerschwinglich, das Beamtentum hatte durchaus Nachteile, das Telefonwesen war alles andere als innovativ – ich erinnere noch das Statement der damaligen Telekom, dass die Verwendung von Akkustikkopplern den Leitungen schade und deshalb verboten sei. In meiner Mieter-aktivistischen Zeit stelllte ich fest, dass die Häuser, die direkt der öffentlichen Hand gehörten, am meisten verwahrlost waren… und das Schärfste: als ich mich dafür interessierte, Anbieter im BTX zu werden, bekam ich als Info einen gut gefüllten Ordner von 8 cm Dicke zugesandt: Vorschriften, Methoden, Voraussetzungen, Antragsformulare etc. usw.
    Es war eben NICHT pure Bosheit, das sehr viel privatisiert wurde, sondern entsprach dem begründeten Eindruck, dass staatliche Verwaltung nicht sehr innovativ, eher schwerfällig und auch nicht besonders Bürger-freundlich ist.

    Deine Alternative in dem Artikel ist auch recht dünn: es gibt NICHTS den Tools von Google, FB & Co, Vergleichbares, das von Vereinen betrieben würde. Und ich als Selbsthosterin habe seit den 90gern einen kleinen Familienbetrieb als Provider – privat und für mich super, da auf Zufruf reagierend.

    Die Kostenlos-Kultur hat es im übrigen ermöglicht, dass alle alle, die zur einfachen technischen Bedienung der Programme im Stande sind, an den Früchten teilhaben können. Wäre alles kostenpflichtig, wäre das nicht mehr so. Dein Einwand, früher hätten wir auch für alles bezahlt, ist so nicht auf diese heutige Welt übertragbar. Wer würde denn für Google-Map bezahlen, wenn man es vielleicht 2 mal im Monat nutzt? Und jene, die es dauernutzen, weil sie es als Navi verwenden: sind das wirklich so viele, dass es den Bestand sichern könnte? Wenn, dann höchstens in rudimentärer Form, ohne Earth, Satellit, Street view – und auch: Places in der Umgebung.

    Aber mehr noch: Was wir heute als soziale Medien kennen, würde auf der Bezahlschiene gar nicht funktionieren. Weil eben nicht gefühlt „alle“ dabei wären, sondern immer nur eine kleine Gruppe Zahlungswilliger, die aber keine Möglichkeit hätten, alle Freunde und Bekannten zu adden.

    Kurzum: Ich glaube nicht, dass viele zu den früheren Verhältnissen zurück wollen. Und dass deshalb der Deal „Daten gegen Nutzung“ eigentlich nicht weiter schlimm ist, solange nicht regelrecht Schindluder mit den Daten getrieben wird. Was ja eigentlich auch nicht Ziel der Giganten ist, die wollen damit Werbung zielgenau machen (erstaunlich, dass man Werbung bei wichtigen Google-Diensten sogar abwählen kann oder gar nicht erst auftaucht, wie bei News). Mich stört das nicht, solange das Nutzungserlebnis nicht allzu sehr gestört wird (wodurch sich eher deutsche Verlagsmedien hervor tun!).

    Apropos: bei der Diskussion ums Leistungsschutzrecht versus Bezahlschranken etc. kommt immer wieder der berechtigte Einwand, dass es für die meisten gar nicht finanzierbar wäre, mit zig Medien Abos abzuschließen. Wer die Mediennutzung per Aggregatoren gewohnt ist, kann sich eben nicht mehr vorstellen, mit EINEM oder vielleicht ZWEI Abos auszukommen….

    Vermutlich bist du ein Gutverdiener, deshalb erscheint dir die Kostenloskurltur als verzichtbar.

  4. Mein Artikel dreht sich um die Eigentumsverhältnisse, und die haben sich seit den 80ern fundamental verändert. Fast nichts gehört mehr der Allgemeinheit, alles ist in der Hand internationaler Hedgefonds. Natürlich darfst du ohne mit Geld zu bezahlen in den Vergnügungspark Internet hinein. Aber du hast keinerlei Kontrolle. Nichts gehört dir, oder uns, oder einem irgendwie politisch kontrollierbaren Etwas. Und ohne eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse wird sich daran auch nichts ändern. Wir reden hier nicht über das Nutzererlebnis in Facebook, sondern um ein Vermögen von mehreren Hunderten Milliarden Euro, das in den Jahrzehnten privatisiert wurde.

  5. Weißt du was? Probier es einfach selber mal aus! Gehe auf https://inrupt.net/, klicke auf „Register“, und kurze Zeit später hast du dann auch so was wie ich: https://stefan-muenz.inrupt.net/. Öffne einen der angezeigten Ordner und klicke dort auf das grüne „+“.

    DAS ist es, was vom Solid-Projekt derzeit existiert. Ein Cloud-Space mit ein paar kleinen Standard-Webanwendungen (Kontakte, Notizen, einfache Dokumente, Kalender, Chat usw.). Die Idee dahinter ist einfach, dass man für jedes Stück Daten genau definieren kann, ob und mit wem man es teilen will. So weit, so gut. Optisch und funktional aber alles in etwa so charmant wie eine garantiert javascript-lose Homepage Ende der 90er. Es gibt nicht mal eine Möglichkeit, aus einem geöffneten Ordner wieder zurückzukehren (außer über Browserfunktionen). Geschweige denn Informationen dazu, ob meine Daten dort auch in 20 Jahren noch liegen werden, oder wie viele meiner 500 Gigabyte ich dort lagern kann. Klar, kann man alles noch verbessern. Aber was dort aktuell geboten wird, hat nicht mal Alpha-Niveau einer Software. Mit so was sollte man einfach nicht an die Öffentlichkeit gehen. Das KANN einfach niemand ernst nehmen. Und genau das passiert auch. Es nimmt niemand ernst.

    Und was die Sache mit den „Pods“ betrifft – das ist keine Erfindung des Solid-Projekts, sondern der dezentralen Netzwerke, die es ja schon seit Jahren gibt. Bekanntestes Beispiel ist wohl Diaspora. Diaspora ist so ein dezentrales Netzwerk. Es gibt sogenannte Pods – das sind Webserver, über die man Zugang zum Gesamtnetzwerk hat. joindiaspora.com ist zum Beispiel einer davon, oder pluspora.com. Du registrierst dich an so einem Pod und kannst dann loslegen. Wenn du im Bereich “Kontakte” in der “Nutzersuche” sucht, findest du auch Leute, die über andere Pods Zugang haben, und du kannst ihnen folgen, um deren Inhalte in deiner Timeline zu sehen. Zu Inhalten gelangst du schnell, indem du in der normalen Inhaltssuche nach einem Hashtag suchst, wie bei Twitter mit # vorne dran, also z.B. #Berlin. Probier es einfach mal aus.

    Der Vorteil dieser Art von Network ist tatsächlich, dass man mit etwas Kenntnis einen eigenen Pod betreiben kann. Du hast hier ja Webspace, kennst sicher deinen Provider gut und könntest ihn fragen, ob es möglich ist, auf einer deiner Domains einen eigenen Diaspora-Pod zu betreiben. Für die große Masse der User ist das natürlich keine Lösung. Aber wenn man unabhängig sein will von jeglichen Fremdanbietern (auch Fremdanbietern von Pods), hat man zumindest die Möglichkeit.

    Das alles aber wie gesagt gibt es schon seit Jahren. Es ist eine spannende Idee, dümpelt aber doch etwas vor sich hin, weil vor allem die kulturelle Intelligenzija diese Netzwerke meidet wie der Teufel das Weihwasser. Jedenfalls wirst du auf Diaspora keinen Lobo, keinen Sixtus, keinen Spreeblick, keine Passmann und so weiter finden. Auch keine Medien (bis auf ein paar inoffizielle Feeds), keine Unternehmen, keine Marken. Das kann man sogar als befreiend empfinden. Aber es kommt dort deshalb auch nicht zu „la olas“, zu „trending hashtags“ oder zu solchen Fällen wie dem von der Schülerin, die es mit einem Tweet innerhalb einer Woche bis in die Fernsehshow von Stefan Raab gebracht hat.

    Derzeit entsteht ja auf dem sterbenden Google+ ein großer Flüchtlingsstrom an Usern, die gerne weiterhin so was hätten. Nicht wenige davon schwenken aktuell auf Diaspora um. Es wird dort also in nächster Zeit auch etwas voller werden. Wenn es dann noch gelingen würde, auch mal solche richtigen Leuchtturm-Accounts, also solche Lobos, Sixtusse und Passmänner da mit ins Boot zu bekommen, dann könnte das tatsächlich noch was werden.

    Wie gesagt – vom Konzept her finde ich diese dezentralen Lösungen gut. Ich begrüße es auch, dass es so was nicht nur für Message-Sharing gibt, sondern auch für das Sharing anderer Daten. Aber wenn, dann wenigstens auf dem Niveau von Diaspora, und nicht auf dem Niveau von SOLID.

  6. Es ist vor allem extrem peinlich, dass Solid noch nicht mehr zu bieten hat, obwohl es doch „seit Jahren entwickelt wird“.

    Statt Solid würde ich die ActivityPub-Szene im Auge behalten. ActivityPub ist ein ganz neuer W3C-Standard für soziale Netze, um es einmal sehr einfach auszudrücken.

    Zum Standard:
    https://www.w3.org/TR/activitypub/
    https://activitypub.rocks/

    Ein Artikel von mir dazu:
    https://www.hasecke.eu/post/activity-pub/

    Mit ActivityPub ist ein Standard entstanden, an den sich Entwickler halten können. Bisher hat jedes Projekt, überspitzt formuliert, sein eigenes Föderations-Protokoll entwickelt, sodass die einzelnen Projekte nicht miteinander kommunizieren konnten. Ausnahmen wie Hubzilla und Friendica, die mit nahezu allen können, bestätigen die Regel.

    Nun aber entstehen gerade diverse Anwendungen, die auf ActivityPub aufbauen und dadurch untereinander kommunizieren können. Das ist eine sehr faszinierende Entwicklung.

    Die populärste AP-Anwendung ist Mastodon, das man als dezentrales Twitter bezeichnen könnte. Mein Profil ist hier: https://hostsharing.coop/@juh

    In meinem oben verlinkten Artikel erwähne ich einige andere AP-Anwendungen, die zurzeit entstehen. Darunter ist auch ein föderiertes Blog-System. Der oben verlinkte Artikel ist also auch per AP zu erreichen. https://fediverse.blog/~/FediverseNotizen/activity-pub-der-turbo-des-fediverse/

    Das ist bis auf Mastodon natürlich alles noch Beta-Software. Aber besser Beta als Vapor. Der Berners-Lee macht PR-mäßig eine Riesenwelle, aber die spannenden Sachen werden momentan woanders entwickelt.