Zur Erklärung eines Phänomens, über das man nur mit dem Kopf schüttelt – solange man nicht mitmacht.
Seit ein paar Monaten tobt ein neuer Hype durch die Netzgemeinde: alles dreht sich um Twitter, das Tool, mit dem man per Website oder Handy grade mal 140 Zeichen „in die Welt schreiben“ kann – weniger noch als per SMS.
Man sollte meinen, gestandene Erwachsene hätten für solch ein reduziertes Medium nur ein müdes Lächeln. Aber weit gefehlt, immer mehr alte Bekannte, auch des Nonsense unverdächtige Webworker der frühen Jahre, finden sich im Twitterschwarm ein, und ich erfahre jetzt, was sie gerade machen – vorausgesetzt, ich „folge“ ihnen auch. Denn anders als in einem Chat, mit dem man Twitter bei nur flüchtigem Blick verwechseln könnte, bekommt man nur die Meldungen derjenigen zu Gesicht, deren Tweet („zwitschern“, Twitter-Stream) man abonniert hat. Diese wiederum bekommen meine Verlautbarungen nur mit, wenn sie „mir folgen“, also meinen Stream abonnieren.
Logisch, dass die Nachrichten, die ich auf meinem „Home“ bei Twitter lesen kann, immer mehr und immer unüberschaubarer werden, je mehr Leuten ich „zuhöre“. Es gibt „Alpha-Twitterer“, denen hunderte, manchmal tausende folgen und die ihrerseits hunderte und tausende mitlesen – sofern man das noch lesen nennen kann. (Und „Twitter-Charts“ gibt’s natürlich auch.)
Schwarmkommunikation: einfach mitzwitschern
Ginge es beim „twittern“ um normale Gespräche, wäre das auch schon mit weniger Teilnehmern nicht möglich, das kennen wir ja aus den Chats. Doch das ist es gerade nicht: Anders als in einem Chat ist die Twitter-Kommunikation nur im Ausnahmefall dialogisch, denn jeder weiß, dass die jeweils „Verfolgten“ zu einer anders zusammen gesetzten Mitleserschaft sprechen:
Person A sagt etwas, Person B kann das lesen, da B Person A folgt. Wenn B nun A antwortet, kann A das nur lesen, wenn A auch B folgt. Aber C, D und F, die dem B auch noch folgen, wissen nichts von A, haben nur B’s Antwort und können den Sinn bzw. Bezug nicht erkennen.
Es liegt auf der Hand, dass Zweiergespräche nicht gut ankommen. „Der chattet ja so viel, das nervt!“ hab ich nicht nur einmal gehört. Und weil das so ist und mittels dieser Art „chaotisch verschachtelter Vernetzung“ gar nicht anders sein kann, stellt Twitter als Hilfe zur Themenfindung über dem Eingabeschlitz die berühmte Frage:
Eine neue Kommunikationsstruktur – oder doch nicht?
Twitter ist also weder dialogisch noch handelt es sich um Gruppengespräche. Auch der Begriff des „Theaterdiskurses“ von Vilém Flusser trifft das Geschehen nicht, denn es sendet nicht „einer an viele“, die nur zuhören, sondern JEDER sendet an viele und hört vielen zu – und zwar sind es jeweils andere „viele“, die sich nur zufällig (bzw. selbst organisiert) überschneiden. Eine solche Kommunikationsstruktur hat es bisher nicht gegeben, doch ist die Struktur als solche dieselbe wie die Verlinkungsstruktur von Blogs und Webseiten: A linkt zu B, C und D; B verlinkt D, F und G – Gegenseitigkeit und Gruppenbildung KANN sein, muss aber nicht und ist nicht der Normalfall;
Gründe zu twittern
Also nicht nur puristische 140 Zeichen, sondern auch noch eine Kommunikationsform, die jegliches sinnvolle Gespräch ausschließt. Was zur Hölle ist der Buzz?
Nach ca. zwei Monaten Selbstversuch und vielen Artikeln über das Twittern erklärt sich für mich der Twitter-Hype wie folgt:
- Es ist EINFACH: der Eingabeschlitz, 140 Zeichen, kein großes Procedere zum Einstieg – auch Menschen, die sonst kaum schreiben, können da locker mit;
- Man ist wieder mal FREI: Kein Thema, kein „Gesprächsfaden“, keine umfangreiche Nettikette, im Moment noch nicht mal Markenschutz und all das, was im Web den Selbstausdruck einschränkt. Da postet z.B. „Roland Koch“ und „Schäuble“ – und niemand mahnt ab.
- Man lernt Leute von einer neuen Seite kennen: Was fängt x, y und z mit seinen 140 Zeichen so an? Erzählt er, dass der Kaffee jetzt fertig ist, oder macht er mehr draus?
- Twitter vermittelt den Eindruck, „alle“ seien stets präsent, bzw. alsbald wieder präsent. Wer alleine arbeitet, findet so eine Anmutung von Großraumbüro, in dem man einander mal „Hallo“ oder eine kurze Info zurufen kann.
- Man bekommt mit, wer sich gerade physisch in Richtung des eigenen Wohnorts bewegt und hat die Möglichkeit, ein Treffen auszumachen;
- Blogger posten natürlich ihre neuesten Artikel – ich auch. Und tatsächlich kommen dadurch neue Leser und sogar „Linkverbindungen“, Kommentare und andere Resonanzen zustande.
- News-Junkies bekommen über Twitter schon mal die allerschnellsten Infos.
- Es ist schneller und einfacher, jemanden über Twitter zu kontakten als per E-Mail (ja, es gibt auch das Feature „private Message“ – allerdings nur an die, die einem folgen);
- Für Schreibende hat die Reduktion auf 140 Zeichen einen Übungswert: man lernt, eine Botschaft aufs extremste zu verdichten und alles Überflüssige wegzulassen.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…
Wie bei jeder neuen Form der Netzkomunikation ist die Freiheit und Unbeschwertheit der Sache meist nur in der Anfangszeit vollkommen. Sehr schnell wird abgecheckt, inwiefern sich das neue Feature für professionelle und kommerzielle Zwecke nutzen lässt. So gibt etwa PR-Blogger Klaus Eck in seinen „30 Tipps zum erfolgreichen Twittern“ Ratschläge, wie man zur Stärkung der eigenen Online-Reputation twittert (nämlich mit Klarnamen), bzw. als Unternehmen, ja sogar als Marke ein Twitter-Branding betreiben kann. Das ist nicht „böse, böse“, sondern der Lauf der Dinge. Kreative Unternehmen wissen: Märkte sind Gespräche – und niemand ist schließlich gezwungen, den „Marken“ zu folgen (was Dove twittert, würde mich aber z.B. durchaus interessieren… ).
Persönlich hab‘ ich mich entschieden, nicht unter den Namen meiner Blogs (WWMAG, Digital Diary, Modersohn-Magazin, Lustgespinst) zu twittern und auch nicht als „Claudia Klinger“. Ich will mir die Flüchtigkeit, Aktualität und Spontanität nicht dadurch vermiesen, dass jeder Satz, den ich sage, einzeln in die Annalen von Google eingeht und so zum „Branding“ dieser Namen beiträgt. Gleichzeitig lege ich aber keinen Wert auf Anonymität: Ich poste als „Human Voice“ (das erste Pseudonym, dass ich im Web der ersten Jahre gelegentlich nutzte), doch steht mein Klarname offen im Profil.
Gibt es ein Totschlag-Argument gegen Twitter?
Ja und nein. Siggi Becker twitterte gestern:
„Für ganze Industrien ist der Kampf gegen die individuelle Fähigkeit zur selbstbestimmten Konzentration überlebenswichtig.“
…und Twitter ist garantiert kein Tool, dass die Konzentrationsfähigkeit stärkt – im Gegenteil! Es zerstreut ungemein, wenn man sich disziplinlos dem Twittergeschehen überlässt, all den Infos folgt, sich vom „Schwarm“ hierhin und dorthin mitreissen lässt. Wer sowieso schon ein Problem damit hat, Prioritäten zu setzen und sich auf das Wesentliche der eigenen Arbeit zu konzentrieren, wird von Twitter wie von einer Zentrifuge „in alle Winde“ zerstreut.
Das aber bietet das Internet auch ohne Twitter lange schon. Es kommt auf den Einzelnen an, was er daraus macht. Selber schaue ich vielleicht dreimal am Tag auf Twitter, mehr wäre unverdaulich. Und sooooo interessant ist es ja auch nicht immer, was da so geschrieben wird.
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Dieser Artikel ist ein Beitrag zu Yannicks Blogparade auf Blogschrott.net
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32 Kommentare zu „Warum twittern?“.