Berlin Friedrichshain, im Jahr 2014, Freitag Nachmittag.
Silvia B. übt seit einem halben Jahr Yoga und denkt beim Blick aus dem Fenster: Tolles Wetter, genau richtig für Draußen-Yoga. Gedacht, getan: „18 Uhr Yoga-Treff auf dem Boxi – wer kommt?“ tippt sie in ihre Statuszeile. Die Meldung ist für Anwohner/innen und Besucher im Umkreis von einem Kilometer lesbar, zudem von allen, die über das Interesse „Yoga“ mit ihr vernetzt sind. Auch auf den thematisch sortierten schwarzen Brettern taucht ihr Anliegen auf – und siehe da: Fünf Leute melden sich, drei davon kennt Silvia schon, einer ist neu und eine Touristin ist auch dabei, die den Vorschlag per Handy mitbekommen hat.
Bernd K. ist Veganer und zeigt gerne, wie man aus Weizengluten einen wohlschmeckenden Fleischersatz macht. „Suche Küche mit Essgelegenheit für 3-stündigen Kochworkshop“ tippt er ins LSN (=lokales soziales Netz). Es meldet sich Birgit, die eine große Küche hat, aber meist keinen Bock, da alleine zu kochen – seit ihrer Trennung ist ihr die Wohnung eh zu groß. Auch der Veggie-Imbiss meldet Interesse an und will sogar für Getränke sorgen. Könnte ja sein, dass der eine oder die andere perspektivisch dann doch zu faul zum selber kochen ist…
Anna B. ist frisch zugezogene Altenpflegerin und seit wenigen Tagen bei einer Friedrichshainer Sozialstation in der ambulanten Pflege beschäftigt. An diesem Freitag ist sie bei Frau K., die trotz ihrer 85 Jahre und Pflegestufe 1 geistig noch voll fit ist. „Schauen Sie mal, was ich da entdeckt habe! Hat mein Enkel mir gezeigt“, sagt Frau K., während sie auf ihrem Tablet etwas eintippt. Anna schaut ihr über die Schulter: „Wer kauft morgen auf dem Markt für mich mit ein?“ steht da jetzt. Alle in der Gruppe „freiwilliges, spontanes Engagement“ vernetzten Friedrichshainer werden von dem Anliegen erfahren, berichtet Frau K. Sicher ist da jemand dabei, der Lust und Zeit hat, sie am Samstag nach dem Markt kurz zu besuchen. „Ja, wie? Sie lassen einfach jeden in die Wohnung, der sich da jetzt meldet?“ fragt Anna halbwegs entsetzt. „Aber nicht doch, Kindchen! Ich nehm’ nur Angebote von Leuten an, die von der AWO, der Caritas oder vom Kiez-Verein verifiziert sind. Nicht einfach irgendwen!“
Ein Netz fürs reale Leben ?
Das sind drei Beispiele von unzähligen, die mir einfallen wenn ich darüber nachdenke, was ein lokales soziales Netz, das den Namen auch wirklich verdient, leisten bzw. ermöglichen könnte. Die ganze Palette der Nachbarschaftshilfe und der freiwilligen Arbeit könnte eine neue Blüte erleben: Nachhilfe, Babysittig, Teilen von Werkzeugmachinen, Katze füttern, Blumen gießen, Hund ausführen, im Urlaub die selbst begärtnerte Baumscheibe pflegen, alte Menschen besuchen und vieles mehr. Auch stadtteilpolitische Aktivitäten könnten über das LSN organisiert werden. Man fände leicht Partner für diverse Hobbys und Freizeitaktivitäten jenseits des bloßen Konsums von Waren und Dienstleistungen – ja, und da liegt auch einer der Gründe, warum es lebendige soziale Netze im physischen Nahraum (!) heute noch nicht wirklich gibt.
Weil es sich nämlich „nicht rechnet“, so etwas aufzubauen. Die paar Restaurants, Kneipen, Frisöre und Blumenläden, die den Kommerz im Kiez darstellen, haben nie und nimmer genug Werbegeld übrig, um für den Business-Plan eines ehrgeizigen StartUps interessant zu sein. Deshalb sind die schon existierenden Netzwerk-Angebote auch nur pseudo-lokal, nämlich „überall“ nutzbar – und damit eben lokal nicht mehr wirklich nützlich, bzw. weitgehend inhaltsleer.
Entwicklung von unten
Ein lokales soziales Netz (LSN) ist nicht von ganz oben aufsetzbar, sondern müsste von unten, von und mit den Menschen bzw. Interessenten, mit den ansässigen Vereinen und Institutionen, Initiativen und Projekt-Gruppen aufgezogen werden. Es hätte viel in Sachen Internet-Bildung zu leisten und müsste einen quasi-öffentlichrechtlichen Charakter haben: frei vom Streben nach Profit, ohne Wachstumszwang, einzig den Anliegen der Nutzer/innen verpflichtet und an diesen entlang weiter zu entwickeln.
Das sind mal ein paar erste Gedanken dazu, die mich schon länger umtreiben. Die Möglichkeiten lokaler sozialer Netze sind enorm, wenn man sie weiter denkt – die Hindernisse sind aber auch nicht grade klein!
Das Thema wird also fortgesetzt. Und wer etwas dazu beitragen will, ist herzlich eingeladen, sich zu beteiligen (Gastartikel, Linktipps, Kommentare etc.).
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25 Kommentare zu „Stell dir vor, es gäbe ein lokales, soziales Netz….“.